II. Was sind die Ursprünge und die Quellengrundlage der traditionellen „Selbstverstümmelungs-These“?
Nach den Dokumenten und den Umständen ist eindeutig, dass Paul Gauguin, Vincents Malerfreund und Mitbewohner im Gelben Haus in Arles, als Erster berichtet hat, Vincent van Gogh habe sich selbst das Ohr abgeschnitten. Und der Erste, dem er dies erzählte, war Joseph d’Ornano, der „Commissaire Central“ von Arles, der Gauguin am Morgen des 24. Dezember 1888 unter dem Verdacht des (versuchten) Mordes an seinem Freund verhörte. Zu diesem Zeitpunkt war van Gogh bewusstlos und zunächst für tot gehalten; einen anderen Zeugen gab es nicht. Es gelang Gauguin, den Kommissar davon zu überzeugen, dass er nichts mit der Sache zu tun hatte, sondern dass sein „irrer“ holländischer Kollege sich selbst verletzt habe. Da festgestellt wurde, dass van Gogh lebte, wurde Gauguin freigelassen. Gleich nach seiner Freilassung eilte er zum „Hospice“ von Arles und erzählte die Geschichte dem jungen Assistenzarzt Dr Félix Rey, der dort am Heiligen Abend Dienst hatte und so die zweite Person wurde, die von Vincents „Selbstverstümmelung“ erfuhr.
So fand die Geschichte ihren Weg in die Krankenakte, in die lokale Presse und in die Öffentlichkeit.
Die usprüngliche Quelle dieser berühmten Geschichte ist jedoch allein Paul Gauguin.
Es gibt zwei schriftliche Versionen von Gauguins Bericht über den Vorfall:
Version 1: In einem Brief von Vincents Malerfreund Emile Bernard an den Schriftsteller und Kunstkritiker Albert Aurier vom 1. Januar 1889 zitiert Bernard in direkter Rede, was Gauguin ihm wenige Tage nach seiner Rückkehr nach Paris berichtet hatte;3; und
Version 2: Gauguin selbst schildert die Ereignisse in einer langen Passage seiner Lebenserinnerungen „Avant et Après“, verfasst 1903 auf Hiva Oa (Französisch Polynesien).4
Gauguin berichtet im Wesentlichen Folgendes: Es habe zunehmend Spannungen und Streit zwischen den beiden Künstlern im Gelben Haus gegeben; van Goghs Verhalten sei immer merkwürdiger geworden, Gauguin habe beschlossen, ihn zu verlassen und nach Paris zurückzukehren. Als er dies seinem Kollegen am 23. Dezember 1888 mitteilte, sei van Gogh durchgedreht und habe ihm einen Zeitungsausschnitt übergeben mit dem Satz: „Le meurtrier a pris la fuite“. Am Abend sei Gauguin ausgegangen, van Gogh habe ihn verfolgt und ihm gesagt: „Vous êtes taciturne, mais moi je le serai aussi“ (dies in Version 1 im Originalbrief unterstrichen, in Gauguins Memoiren aber nicht erwähnt); van Gogh habe sich mit einem Rasiermesser auf ihn gestürzt, was Gauguin aber mit seinem festen Blick abgewehrt habe (Version 2). Gauguin habe beschlossen, die Nacht in einem Hotel zu verbringen, während van Gogh heimgekehrt sei, ein Rasiermesser genommen und sich damit sein Ohr glatt abgeschnitten habe (Version 1: „s’était tranché net l’oreille“, Version 2: “se coupa l’oreille juste au ras de la tête”). Dann habe er die Blutung gestillt, das abgetrennte Ohr eingewickelt, eine Baskenmütze aufgesetzt, sei zu einem Bordell im Rotlichtviertel gegangen [ca. 350 m entfernt], habe dort sein Ohr mit biblischen Worten einem Mädchen übergeben, das sogleich in Ohnmacht fiel, sei dann nach Hause zurückgelaufen, habe dort die Fensterläden geschlossen und eine Lampe auf den Tisch beim Fenster gestellt (Version 2) und sei dann in seinem Schlafzimmer im 1. Stock zu Bett gegangen, wo er am folgenden Morgen von der Polizei halbtot aufgefunden wurde. Gauguin versichert in beiden Berichten, dass er von alledem keine Ahnung hatte, als er am Morgen des 24. Dezember zum Gelben Haus heimkam, wo er von der Polizei festgenommen und verhört wurde. Dennoch konnte er diesen detaillierten Bericht über den Hergang abgeben.
3. Emile Bernard to Gabriel-Albert Aurier, 1 Jan. 1889; The NewYork Public Library ((Astor, Lenox and Tilden Foundations); facsimile and transcription in: Bakker/Tilborgh/Prins 2016, p. 132-135↩
4. "Gauguin 1996"= Paul Gauguin, Avant et Après (1903), facsimile edition: Leipzig 1918; English (USA): Gauguin's intimate journals, translated by Van Wyck Brooks, preface by Emile Gauguin; New York (Boni & Liveright) 1921; unabridged republication as paperback: Mineola NY (Dover Publications) 1996; p. 11-12↩