III. Warum bezweifeln Sie die Aussagen des „Kronzeugen“ Paul Gauguin?
Zunächst einmal: Gauguin war kein Augenzeuge von Vincents angeblicher Selbstverstümmelung: Nach seinen eigenen Worten war er nicht anwesend, als van Gogh sich das Ohr abgeschnitten haben soll. In seinen beiden Berichten betont er, dass er die Nacht in einem Hotel verbracht und keine Ahnung davon hatte, was seinem Kollegen inzwischen geschehen war, als er am Morgen nach Hause kam. Van Gogh war noch bewusstlos und unfähig zu sprechen (er hat auch später nie bestätigt, sich das Ohr selbst abgeschnitten zu haben); andere Zeugen gab es nicht; und da die Polizei Gauguin zunächst als Tatverdächtigen festnahm, ist klar, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt keinen Beweis gefunden oder aus den Umständen geschlossen hatte, van Gogh habe sich selbst verletzt.
In beiden Versionen leitet Gauguin seine Darstellung mit den Worten ein: “Voici ce qui s’était passé“ („Folgendes war geschehen“). Doch es ist nicht klar, woher er alle die geschilderten Einzelheiten wissen konnte über das, was sein Freund in der Zwischenzeit getan haben soll. Der einzig logische Schluss ist, dass er sie während des Verhörs erfunden hat. Leider existieren keine Dokumente darüber, z.B. kein Verhörprotokoll. Und auffälligerweise liefert Gauguin in keinem seiner beiden Berichte genauere Einzelheiten über seine Aussagen beim Verhör, außer in Version 2, wo er dem Polizeipräfekten am Schluss gesagt habe: „Mein Herr, wecken Sie diesen Mann ganz vorsichtig auf, und wenn er nach mir fragt, sagen Sie ihm, ich sei nach Paris abgereist: mein Anblick könnte für ihn verhängnisvoll sein“ – („Veuillez, Monsieur, réveiller cet homme avec beaucoup de ménagements et s’il demande après moi dites-lui que je suis parti pour Paris: ma vue pourrait peut-être lui être funeste“).
Dies wirft ein gewisses Licht auf seine Taktik, auf die wir später zurückkommen werden. Jedenfalls gelang es ihm, den Polizeikommissar von seiner Unschuld zu überzeugen, so dass er freigelassen wurde. Manche sehen in dieser Freilassung einen Beweis für Gauguins Glaubwürdigkeit und für seine Unschuld5.
Doch genauer betrachtet sind seine Berichte zweifelhaft, unwahrscheinlich und widersprüchlich. Es ist auch bemerkenswert, dass er den Polizeipräfekten d’Ornano später in zwei Karikaturen als Dummkopf darstellte (s. Frage 4).
Grundsätzlich sollte die Behauptung, jemand habe sich selbst ein Ohr abgeschnitten, mit angemessener Vorsicht behandelt werden. In seinen Memoiren beschreibt Gauguin sich selbst als schlauen Lügner. Und in diesem Fall gibt es eine Fülle von Indizien dafür, dass er nicht die Wahrheit sagte. Schon van Goghs Hinweis „Der Mörder ist entflohen“ („Le meurtrier a pris la fuite") und seine Worte „Sie sind verschwiegen, doch ich werde es auch sein“ ("Vous êtes taciturne, mais moi je le serai aussi"), die zwar von Gauguin überliefert, in der Forschung bisher aber nicht angemessen gedeutet wurden, illustrieren, dass zwischen ihnen etwas Bedeutsames vorgefallen war, das Gauguin verschwieg. Hinzu kommt sein spontaner Entschluss, trotz seines notorischen Geldmangels die Nacht im Hotel zu verbringen, ebenso wie van Goghs spätere Bemerkung, er habe Gauguin doch sagen wollen, „die Sache sollte zwischen ihm und mir bleiben“ (Justement pour lui dire de garder cela pour lui et pour moi).*
Wir müssen annehmen, dass es in jener Nacht in den Straßen von Arles und nahe dem Bordell eine heftige Auseinandersetzung zwischen van Gogh und Gauguin gab, und die erwiesene Tatsache, dass van Gogh sein abgetrenntes Ohr im Bordell abgab, legt nahe, dass es kurz zuvor und in der Nähe abgetrennt wurde. Denn allein schon wegen der Entfernung ist es nicht glaubhaft, dass van Gogh nach dem auf der Straße fortgesetzten Streit nach Hause gegangen, sich dort ein Ohr abgeschnitten, die Wunde versorgt, das Ohr eingewickelt haben und dann damit zum Bordell und wieder nach Hause gelaufen sein soll, wie Gauguin uns glauben machen will.
5. see e.g. "On the Verge of Insanity", 2016, p. 165, footnote 16 ↩
* Letter 736, "Leo Jansen/Hans Luitjen/Nienke Bakker (eds.): Vincent Van Gogh, The Letters – The Complete and Annotated Edition (6 vols); Amsterdam/The Hague/Brussels 2009 (ISBN 978-90 6153 853-00/2009/703/46; quoted as: "Letters 2009" ↩