X. War Gauguin zu einem so präzisen Säbelhieb fähig?

 

Gauguin war ein ausgezeichneter Fechter. Er führte den Titel „Maître d'armes civiles“ und besaß scharfe Duellwaffen. Mindestens zwei Duellforderungen in seinem Leben sind dokumentiert, ebenso die Tatsache, dass er seine Fechtausrüstung nach Arles mitbrachte. In seinen Memoiren widmet er eine lange Passage seiner Fechtausbildung und seiner Fechtkunst (Avant et Après (1989), p. 165–172; Vorher und Nachher (2003), S. 152-159).

Er hatte zunächst am Institut Loriol fechten gelernt, einer Kadettenschule der französischen Marine in Joinville-le-Pont, später auch an der Fechtschule Salle Hyacinthe in Paris. Dort war einer seiner Meister der berühmte Augustin Grisier (1791-1865), der zuvor sogar dem Sohn des russischen Zaren in St. Petersburg Unterricht im Säbelfechten erteilt hatte. Während seines Aufenthaltes in Pont-Aven in der Bretagne (Feb. - Okt. 1888) hatte Gauguin selbst auch Fechtunterricht gegeben, zusammen mit dem örtlichen Fechtlehrer, dem er nach eigenem Bekunden noch bei der Verbesserung seiner Technik half. Jedenfalls schätzte Gauguin seine Fechtkunst sehr hoch ein.

Daher sollte es für ihn kein Problem gewesen sein, van Goghs Ohr mit einem präzisen Säbelhieb abzuschlagen, ohne dessen Hals oder Schulter zu verletzen. Außerdem ist davon auszugehen, dass van Gogh in jener kalten Winternacht seine dicke grüne Jacke trug (wie später bei seinem Selbstporträt), die ihn geschützt hat. Es ist auch denkbar, dass das Ohr zufällig getroffen wurde, als Gauguin seine Waffe in Richtung auf seinen erregten Freund bewegte. Beide Szenarien sind möglich, entweder ein gezielter und präziser Hieb oder eine zufällige Verletzung, und wir werden wohl nie erfahren, was zutrifft. Entscheidend aber ist, dass Gauguin es war, der die Verletzung verursacht hat. Es ist auch bemerkenswert, dass er in seinen beiden Berichten über die Ereignisse hervorhebt, van Gogh habe sich das Ohr „glatt abgeschnitten“ (1. Version: „s'était tranché net l'oreille“), und zwar. „hart am Kopf“ (2. Version: „se coupa l'oreille juste au ras de la tête“). Es sieht so aus, als wäre Gauguin insgeheim auf seinen präzisen Säbelhieb stolz gewesen.

  

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