VIII. War die ganze Ohrmuschel van Goghs abgetrennt, oder nur ein Teil davon?
Diese Frage ist lange umstritten gewesen, und sie ist eng verknüpft mit der Wahrscheinlichkeit der Selbstverletzungs-Theorie. Viele Kunsthistoriker, die glaubten, van Gogh habe sich selbst verletzt, gingen von einer weniger schweren Verletzung aus und behaupteten, er habe nur „einen Teil des Ohrs“ oder gar nur des „Ohrläppchens“ abgeschnitten, was die Selbstverstümmelung plausibler erscheinen ließ. Doch bereits 2007 hatte Rita Wildegans in einer Publikation darauf hingewiesen, dass eindeutig die ganze linke Ohrmuschel abgetrennt gewesen sein muss.18
Und dies haben wir 2008 auf der Grundlage einer ausführlichen kritischen Analyse der uns damals verfügbaren schriftlichen und bildlichen Quellen in einem Kapitel unseres Buches erneut nachgewiesen.19
Dessen ungeachtet haben die Experten des Amsterdamer Van-Gogh-Museums (VGM) noch bis vor Kurzem die Meinung vertreten, van Gogh habe sich nur einen Teil seines Ohrs abgeschnitten.
Louis van Tilburgh vom VGM behauptete in der Sendung „Vandaag“ des niederländischen Fernsehens am 6. August 2001, es sei unmöglich, dass das ganze Ohr abgetrennt war, da van Gogh in diesem Falle „sofort verblutet wäre“. Und Dr. Axel Rüger, der Direktor des VGM, stellte noch im Oktober 2015 bei einem Vortrag im Minneapolis Institute of Art (MIA) fest, van Gogh habe sich „a part of his ear“ abgeschnitten.20
Glücklicherweise ist diese Frage heute endgültig geklärt: Bernadette Murphy, eine in Südfrankreich lebende britische Amateurforscherin, hat vor Kurzem die Zeichnung von der Ohrverletzung wiederentdeckt, die Dr. Felix Rey am 18. August 1930 für den US-amerikanischen Schriftsteller Irving Stone angefertigt hatte und die sich heute in der Bancroft Library of the University of California, Berkeley, befindet. [ill. 7]21
Illustration 7
Sie zeigt durch eine gestrichelte Linie, dass Vincents ganze linke Ohrmuschel hart am Kopf in einem glatten senkrechten Schnitt abgetrennt war, mit einer leicht nach unten auswärts laufenden Richtung, so dass das Ohrläppchen praktisch halbiert war, ein Teil davon sogar hängen blieb. Diese Zeichnung bestätigt unsere früheren Ergebnisse und macht die Selbstverstümmelungstheorie noch unwahrscheinlicher als sie es je war.
Dieser Nachweis ihres langen Irrtums hat die Experten des VGM bisher nicht davon abgebracht, an der alten Legende von van Goghs Selbstverletzung festzuhalten, die sie auch dadurch aufrechtzuerhalten suchen, dass sie weiterhin seinen „Wahnsinn“ hervorheben.22 Dies ist nur allzu verständlich, da ihr Insisitieren, nur ein Teil des Ohrs sei abgetrennt gewesen, eines der Hauptargumente war, das sie zur Verteidigung der Selbstverletzungstheorie vorgebracht hatten.
18. Rita Wildegans: "Van Goghs Ohr. Ein Corpusculum als Corpus delicti"; in: Curiosa Poliphili – Festgabe für Horst Bredekamp , Leipzig (Seemann) 2007, p. 192 –198; published also online in English, German and French↩
19. Kaufmann/Wildegans 2008, p. 296 – 311↩
20. Axel Rüger, Lecture "Van Gogh, the Artist and the Man", Minneapolis Institute of Art, October 2015; see https://vimeo.com/144828999↩
21. see Bernadette Murphy, Van Gogh's Ear – The True Story; New York (Farrar, Straus & Giroux) 2016, p. 144-149. - It is remarkable, that it was an amateur researcher who discovered in the archives of the Van Gogh Museum (Amsterdam) the hint leading to this drawing, and not the scholars at "the world's centre of expertise in all things Van Gogh" (Murphy, op.cit., p. 5).↩
22. Nienke Bakker/Louis van Tilborgh/Laura Prins, On the Verge of Insanity – Van Gogh and his Illness; Amsterdam (VGM) 2016↩