IV. Wie können Sie belegen, dass Gauguin der Täter war?

 

Gauguins Verhalten nach dem Vorfall:

1. Gauguins Entschluss, im Hotel zu übernachten

In seinen Lebenserinnerungen „Avant et Après“ beschreibt Gauguin sein Handeln unmittelbar nach der Schilderung seiner Begegnung mit van Gogh in den Straßen von Arles am Abend des 23. Dezember 1888: „Kurz entschlossen ging ich in ein gutes Arler Gasthaus, fragte nach der Zeit, nahm ein Zimmer und legte mich zu Bett. Aufgeregt wie ich war, schlief ich erst gegen drei Uhr morgens ein und erwachte ziemlich spät gegen halb acht Uhr.“ Dies ist eine recht vielsagende Passage, die einige Fragen aufwirft:

Zunächst einmal, warum beschloss Gauguin an jenem Abend nach seiner letzten Begegnung mit van Gogh, trotz seines notorischen Geldmangels die Nacht in einem „guten Arleser Hotel“ zu verbringen, statt nach Hause zu gehen? Manche Autoren versuchen, seinen spontanen Entschluss damit zu erklären, Gauguin habe vor van Gogh und seinem merkwürdigen Verhalten Angst gehabt. Doch angesichts von Gauguins bekannter Selbstsicherheit und Furchtlosigkeit erscheint diese Erklärung nicht überzeugend. Es muss andere Gründe dafür geben.

Zweitens, warum legt er Wert darauf zu berichten, er habe sich bei seiner Ankunft im Hotel „nach der Uhrzeit erkundigt“? Das klingt sehr danach, als ob er sich ein Alibi sichern wollte.

Drittens, warum war er so erregt, dass er erst gegen drei Uhr früh einschlafen konnte und bereits um halb acht wieder aufwachte, nach nur viereinhalb Stunden Schlaf? Dies ist ein starker Hinweis darauf, dass zwischen van Gogh und ihm bei ihrem letzten Zusammentreffen auf der Straße etwas sehr Dramatisches geschehen war, dass er darin verwickelt und sehr besorgt war wegen möglicher Folgen für ihn selbst.

2. Gauguins erste Reaktion nach seiner Festnahme

Gauguins erste Reaktion am Morgen des 24. Dezember 1888, als Joseph d’Ornano, der Polizeipräfekt von Arles, ihm sagte, dass sein Freund „tot“ aufgefunden worden war, ist weit entfernt von der normalen Gefühlsäußerung, die man von einem ahnungslosen Freund erwarten würde, der erfährt, dass sein Freund während seiner Abwesenheit plötzlich verstorben ist. Statt zu fragen, was mit Vincent geschehen sei, und statt Entsetzen und Trauer zu zeigen zeigte Gauguin typische Gefühle von Panik und schlechtem Gewissen: „Ich brauchte lange Minuten, um wieder zu denken und mein Herzklopfen unterdrücken zu können. Wut, Empörung, Schmerz und die Schande all dieser Blicke, die mich auffraßen, zerrissen mich und nur stammelnd sagte ich: ‚Gut, mein Herr, gehen wir nach oben und reden reden wir dort weiter’ “.

Erst die Feststellung, dass Vincent noch lebte, bedeutete für ihn „das Wiedererwachen meines Verstandes und meiner Energie“.. Und dies war offenbar der Moment, in dem er die Geschichte von der Selbstverletzung van Goghs erfand, um jeden Verdacht von sich abzulenken.

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Gauguin gab dem Kommissar den merkwürdigen Hinweis, es könnte für Vincent “verhängnisvoll” (funeste) sein, wenn er ihn beim Erwachen aus der Ohnmacht sähe. Offensichtlich hatte er ihn als einen „Wahnsinnigen“ dargestellt, der auf seinen Anblick gefährlich reagieren würde.
Und Gauguin war sehr erleichtert darüber, den Polizeipräfekten in die Irre geführt zu haben: In zwei Karikaturen in seinem „Skizzenbuch aus Arles und der Bretagne“ macht er sich über d’Ornanos Leichtgläubigkeit und über seinen Mangel an Scharfsinn lustig.
In der ersten Karikatur (die er später für eine Speisekarte wieder verwendete) stellt er d’Ornano dar, wie er zu einem Truthahn (dindon) spricht, eine Anspielung auf die französische Redensart vom „dindon de la farce“ (der Spaßvogel, der Tölpel). D’Ornano sagt dem Truthahn in provenzalischem Dialekt „Je souis le commissaire central!!!“ (etwa: „Isch bün der Zentrallkommissar!!!“)

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illustration 1, zwei Karrikaturen aus Gauguins Notizheft

In der zweiten Karikatur ist d’Ornano in Rückansicht zu sehen, wie er ein Gemälde auf einer Staffelei betrachtet, und laut Untertext zu der Erkenntnis kommt: „Vous faites de la peinture!“ (Etwa: „Aha, Sie malen Bilder!“).
So schätzte Gauguin die kriminalistischen Fähigkeiten des Polizeipräfekten ein, der sich mit seiner Geschichte von der Selbstverstümmelung van Goghs zufrieden gab und der ihn gehen ließ ohne die Aufforderung, sich für weitere Untersuchungen zur Verfügung zu halten.

3. Gauguins Weigerung, an Vincents Krankenbett zu kommen

Wie schon erwähnt, war Gauguin nach seiner Freilassung bei Vincents Einlieferung im Hospice von Arles anwesend und hat auch Dr. Félix Rey die Geschichte von van Goghs „Selbstverstümmelung“ erzählt. Er hielt sich dort offensichtlich noch einige Zeit im Hintergrund auf, um die weitere Entwicklung abzuwarten. Sobald Vincent einigermaßen zu sich kam und erfuhr, was laut Gauguins Bericht geschehen war, bat er wiederholt und dringend darum, seinen Freund sofort zu sehen und mit ihm zu sprechen. Doch ungeachtet der wiederholten Bitten van Goghs weigerte sich Gauguin zu erscheinen. Er wollte offensichtlich vermeiden, seinem Kollegen gegenüberzutreten. Auch dies ist ein sehr eigenartiges Verhalten einer (angeblich) unschuldigen Person, deren Kollege in Lebensgefahr war, nachdem er sich (angeblich) selbst verletzt hatte, und der jetzt dringend mit seinem Freund sprechen wollte. Gauguins Ausrede, er habe Vincent nicht stören wollen und dass sein Anblick ihm „verhängnisvoll“ sein könnte, ist alles andere als überzeugend und wirft mehr Fragen auf als sie Antworten gibt.
Van Gogh hat sich später darüber beklagt, dass Gauguin trotz seiner dringenden Bitten einfach verschwunden war, ohne sich noch einmal zu zeigen (siehe unten, Frage 12). Tatsächlich hat Gauguin dafür gesorgt, dass sich die beiden Künstler in ihrem Leben nie wieder gesehen haben. Im Frühsommer 1890, als van Gogh den Wunsch äußerte, zu ihm und de Haan nach Le Pouldu in die Bretagne zu kommen, drängte Gauguin seine Wirtin, Mme Henry, ihm mitzuteilen, dort sei kein Platz mehr. Er soll ihr gesagt haben: „Jamais da la vie!, disait-il, il est fou! Il a voulu me tuer !» ("Nie im Leben! Er ist verrückt! Er wollte mich töten!")
(Victor Merlhès (ed.): Paul Gauguin et Vincent Van Gogh 1887-1888 – Letres retrouvées, Sources ignorées;
Taravao (Tahiti) (editions Avant et Après) 1989, p. 246 footnote 4).
(zu Gauguins Propaganda über van Goghs angeblichen Wahnsinn siehe unten, Frage 6.)

4. Gauguins überstürzte Flucht aus Arles

Gauguin hatte es eilig, Arles so schnell wie möglich zu verlassen. Seine Lage dort war zu heiß geworden. Nachdem er Vincents Bruder Theo telegrafisch alarmiert hatte, reiste er noch am Abend des 24. Dezember 1888 nach Paris ab. Bei seiner hastigen Abreise ließ er nicht nur seinen verwundeten Freund und das Gelbe Haus zurück, sondern auch praktisch seine ganze persönliche Habe: seine Studien, seine Skizzenbücher, Teile seiner Fechtausrüstung (Fechtmasken und Handschuhe) und sogar seine Schlüssel. Daraus folgt, dass er nicht nochmals ins Gelbe Haus zurückkehrte und nach dem Aufenthalt im Hospital und dem Telegramm an Theo sogleich nach Paris aufbrach.
Vincents Freund, der Postmann Roulin, der sich im Krankenhaus um den Verletzten kümmerte und dafür sorgte, dass das Gelbe Haus gereinigt und die blutigen Betttücher und Kleider gewaschen wurden, sandte Gauguin freundlicherweise dessen Schlüssel nach Paris nach. Im ersten Brief nach seiner Flucht bat Gauguin den kranken van Gogh, Roulin dafür zu danken: „Merci à Roulin d’avoir pensé à moi. J’ai bien recu mes clefs“. (Brief 734).6

Einige Forscher behaupten, Gauguin habe in Arles einen weiteren Tag auf Theo gewartet, ihn zum Hospital begleitet und sei danach gemeinsam mit ihm nach Paris zurückgekehrt. Jedoch gibt es für diese Behauptung keinerlei Beweis, nicht den kleinsten Hinweis in den Dokumenten. Im Gegenteil: Es ist ganz offensichtlich, dass Gauguin nicht auf Theo gewartet hat. Er hatte Arles schon am selben 24. Dezember verlassen, wogegen Theo Paris am Abend des 24. Dezember verließ und am folgenden Morgen in Arles ankam, so dass beide in dieser Nacht in entgegengesetzer Richtung reisten. Gauguin selbst gab sein Abreisedatum aus Arles in seinem Bericht an Emil Bernard klar und eindeutig an, was Bernard in seinem Brief an Albert Aurier niederschrieb, indem er Gauguin wörtlich zitierte: „Am Vorabend meiner Abreise (denn er musste Arles verlassen) ist Vincent mir nachgelaufen (er ging aus, es war Nacht). Ich wandte mich um...“- und nachfolgend Gauguins Darstellung der Ereignisse jener Nacht. 7

Gauguins Angabe „la veille de mon départ" (am Vorabend meiner Abreise) bedeutet eindeutig, dass er Arles am Tage nach dem fraglichen Vorfall verlassen hat, also am 24. Dezember. Dies stimmt auch überein mit seiner Bitte an den Polizeipräfekten vom selben Morgen, falls van Gogh nach ihm fragen sollte, „sagen Sie ihm, dass ich nach Paris abgereist bin“. („dites-lui que je suis parti pour Paris“). Außerdem hat Theo in den Briefen an seine Verlobte, worin er über seinen Besuch in Arles berichtet8, nie erwähnt, Gauguin dort getroffen bzw. mit ihm zusammen zurück gereist zu sein, sondern seine Rückkehr nach Paris im Singular gemeldet: „I had already left on Tuesday evening“. Hätte Gauguin auf ihn gewartet und den ganzen Weihnachtstag (25. Dezember) mit ihm verbracht und die lange Bahnfahrt zurück nach Paris zusammen mit ihm gemacht, dann hätte Theo Jo mit Sicherheit etwas davon mitgeteilt. Auch Gauguin erwähnt in seinen Berichten Theo mit keinem Wort. Er berichtete Bernard lediglich, „er“ habe Arles verlassen müssen, und „er“ sei am Tage nach dem Vorfall, also am 24. Dezember abgereist. Dies passt auch dazu, dass er eine direkte Begegnung mit Vincent unbedingt vermeiden wollte, was kaum möglich gewesen wäre, wenn er auf Theo in Arles gewartet hätte. Es ist offensichtlich, dass Gauguin bereits am 24. Dezember abgereist war, ohne auf Theo zu warten.

In diesem Punkt gibt es eine grundlegende Meinungsverschiedenheit zwischen uns und anderen Kunsthistorikern.

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5. Gauguins Furcht, entdeckt zu werden

Eine Zeitlang fürchtete Gauguin, dass seine Verwicklung in das „Ohr-Drama“ ans Licht kommen würde. Dies erklärt seine Weigerung, van Gogh im Hospital zu begegnen, sowie seine rasche Flucht aus Arles. Dies erklärt auch seinen Eifer, seine zurückgelassene Fechtausrüstung unverzüglich wiederzubekommen. In seinen ersten Briefen aus Paris (Briefe Nr. 734 und 737) bat er den kranken Vincent zweimal, ihm so bald wie möglich „seine Fechtmasken und –handschuhe“ nachzusenden. Er war darauf bedacht, sie aus dem Gelben Haus entfernt zu wissen, da sie leicht Nachfragen nach dem Rest seiner Bewaffnung auslösen konnten, falls die Polizei weitere Ermittlungen unternehmen sollte. Denn auffälligerweise ist von der zugehörigen Fechtwaffe selbst nirgendwo die Rede. Sie war offensichtlich nicht mehr im Gelben Haus, also muss Gauguin sie entweder mitgenommen haben, als er Arles verließ, oder sie anderswo entsorgt haben.

Seine Furcht vor Entdeckung erklärt auch seine starke emotionale Anteilnahme an der Hinrichtung des Mörders Prado zwei Tage nach seiner Rückkehr nach Paris. Offenbar identifizierte er sich mit dem verurteilten Verbrecher, und die Hinrichtung, bei der er anwesend war, war für ihn ein Erlebnis, das ihn noch 14 Jahre später aufwühlte, als er seine Memoiren schrieb.9
Auch in einer merkwürdigen Passage seines Briefes, den er im Januar 1889 an einen unbekannten „Cher monsieur“ schrieb, kommt Gauguins Besorgnis um sich selbst zum Ausdruck: „Ich sollte ein Jahr im Süden bleiben, um bei einem befreundeten Maler zu arbeiten; unglücklicherrweise ist dieser Freund völlig verrückt geworden, und für einen Monat musste ich alle Befürchtungen eines tödlichen, tragischen Unfalls durchmachen“. (“Je devais rester un an dans le midi à travailler près d’un ami peintre; malheureusement cet ami est devenu fou furieux et j’ai dû subir pendant un mois toutes les craintes d’accident mortel et tragique").10
Offenbar war Gauguin weniger besorgt um seinen Freund, den er im Stich gelassen hatte, als vielmehr um die möglichen Folgen eines " tödlichen und tragischen Unfalls“ für ihn selbst. Denn es war anfangs noch nicht sicher, ob Vincent überleben würde. Gauguin, sonst ein furchtloser und selbstsicherer Mann, erschien jetzt unsicher und fürchtete, als Täter entdeckt zu werden.

 

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6. cf. Gauguin to Vincent van Gogh, between 8 and 16 Jan. 1889, Letters 2009, No. 734: "Merci à Roulin d'avoir pensé à moi. J'ai bien reçu mes clefs", my translation. The proposed English translation in Van Gogh Letters No. 734 "I have indeed received my stretcher keys" or "my stretchers" for «mes clefs» is misleading and absurd: nothing in the context of the letter suggests that Gauguin did not mean just his keys; and it is strange to assume that the poor postman Roulin should have sent, on his own initiative and at his own expense, some stretcher keys or wooden wedges, worthless objects which Gauguin could easily buy in Paris.

7. see footnote 3, above, and Druick/Zegers 2001, p.260; (my translation, my underlining).

8. Leo Jansen/Jan Robert (eds.): Brief happiness – The correspondence of Theo van Gogh and Jo Bonger; Amsterdam/Zwolle 1999 (ISBN 90 400 9372 5), letters 6, 9, 11, 13.

* Nienke Bakker/Louis van Tilborgh/Laura Prins: On the Verge of Insanity – Van Gogh and his Illness; Amsterdam/Brussels/New Haven (Van Gogh Museum) 2016, p. 40

9. Gauguin, Avant et Après 1989, p. 156-159; Kaufmann/Wildegans 2008, p. 330-332; Bailey (2005), p.40.

10. Paul Gauguin to an unknown Monsieur, Paris, January 1889; autograph auctioned at J.A.Stargardt, Berlin, 1/2 April 2008, lot 573b; the transcription of the letter and the facsimile reproduction of its first page are in the Auction catalogue nr. 688 , p. 240-241; my translation.